„Barrierefreiheit muss in den Köpfen ankommen“

Ein Gespräch mit Guy Streveler über den Alltag als blinder IT-Experte, die Macht der Technik – und die Rolle der Gesetze

Als Guy Streveler im Erwachsenenalter erblindete, war das zunächst ein Schock. „Im Privatleben war das der Verlust der Autonomie – und damit kam auch Frust, manchmal sogar Aggressivität“, erinnert er sich. Seine damalige Partnerin hilft ihm über diese schwierige Phase hinweg.

Der Übergang im Berufsleben hingegen gelang vergleichsweise gleitend. Mithilfe einer verständnisvollen Hierarchie, technischer Hilfsmittel und eines starken Willens konnte er weiter als Entwickler in der Bank arbeiten. „Ich wollte nie aufgeben und das Beste aus der Situation machen.“

Technik als Schlüssel zur Selbstständigkeit

Für Guy Streveler war Technik der entscheidende Hebel, um sich ein neues selbstbestimmtes Leben aufzubauen. „Ohne Screenreader hätte ich meine Arbeit als Entwickler nicht fortsetzen können“, betont er. Digitale Hilfsmittel, sowohl sprechende als auch taktile, gaben ihm einen großen Teil seiner Autonomie zurück – im Berufs- wie im Privatleben.

Auch seine Arbeitsweise passte er an. „Ich musste vom Sehen aufs Hören umsteigen, mein Gedächtnis wurde dabei extrem trainiert. Wofür andere eine visuelle Stütze wie ein Diagramm brauchten, konnte ich auf meinen Verhalt zählen.“ Guy Streveler absolvierte einen Dactylographiekurs, um weiterhin eine normale Tastatur benutzen zu können. Mit seinem Teampartner bildete er ein leistungsfähiges Tandem: er programmierte das Backend, sein Kollege das Frontend.

Barrierefreiheit als Beruf und Berufung

Nach seiner Tätigkeit als Entwickler beginnt Guy Streveler als Experte für digitale Barrierefreiheit – sowohl im beruflichen als auch im ehrenamtlichen Kontext. „Ich teste alles, was mir im Alltag begegnet – von Einkaufsplattformen bis zu Behördenportalen.“ Auch Hilfsmittel selbst werden geprüft. Je nach gewünschter Gründlichkeit sind diese Tests durchaus aufwendig: Formularfelder, Menüpunkte oder Buttons müssen mit dem Cursor erreichbar sein, Screenreader-Texte korrekt implementiert, Navigation klar und logisch.

Ein gutes barrierefreies Produkt erkennt man für ihn daran, dass es „einfach, sicher und intuitiv“ zu bedienen ist. Die häufigsten Mängel liegen hingegen in der Beschränkung auf Maussteuerung, unvollständigen Informationen für Screenreader, komplexen Kalendertools oder unübersichtlichen Tabellen.

Ein positives Beispiel? Die E-banking App einer großen Bank des Finanzplatzes, die nach seiner Rückmeldung deutlich verbessert wurde.

Negatives Beispiel? Ausgerechnet die App eines Beförderungsdienstes für Personen mit eingeschränkter Mobilität, auf die Guy Streveler selbst angewiesen ist. „Da tut sich auch nach mehrfacher Intervention nichts.“, meint er achselzuckend. „Dabei müssten die doch gerade vorbildlich unterwegs sein.“

"Design for all – von Anfang an“

Die Zusammenarbeit mit Unternehmen beschreibt Guy Streveler als meist offen – zumindest wenn persönliche Berührungspunkte mit dem Thema bestehen. „Wenn jemand in der Familie betroffen ist, ist das Verständnis größer.“ Dennoch: Barrierefreiheit werde noch zu selten als Priorität gesehen. „Oft heißt es, der Aufwand lohnt sich nicht für die paar Leute.“

Dabei wäre es wirtschaftlich sogar klug: „Design for all von Anfang an ist die kostengünstigste Barrierefreiheit. Sie bringt mehr Nutzer, also mehr Kunden, also mehr Gewinn.“

Auch der gesetzliche Rahmen – etwa das neue europäische Barrierefreiheitsgesetz – ist für ihn essenziell. „Früher war Barrierefreiheit oft nur eine Randnotiz. Jetzt ist sie rechtlich verpflichtend – das verändert die Perspektive.“ Für ihn ist klar: Der gesetzliche Druck ist notwendig, bis Barrierefreiheit gesellschaftlich zur Selbstverständlichkeit geworden ist. „Heute muss niemand mehr erklären, warum ein Bordstein abgesenkt werden muss – so selbstverständlich sollte auch digitale Barrierefreiheit werden.“

Ein Appell an die nächste Generation

Guy Strevelers Wunsch an künftige Entwickler:innen ist klar: „So viel Aufwand, wie heute für den sexy Look betrieben wird, sollte auch in die Barrierefreiheit fließen.“ Der Grundsatz dabei sei einfach: Keep it simple – Anwendungen sollen das Leben erleichtern, nicht erschweren.

Der technische Fortschritt bietet heute schon Lösungen, die das Leben für Menschen mit Behinderung erheblich vereinfachen könnten – „wenn man sie nur richtig nutzt.“ Die eigentliche Herausforderung liegt für ihn nicht in der Technik, sondern im Umdenken: „Barrierefreiheit muss in den Köpfen ankommen.“

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